Über den Autor: Der Autor ist ehemaliger Angehöriger des öffentlichen Diensts der Bundesrepublik Deutschland. Er arbeitete im Bereich Sicherheit, und verantwortete u.a. eine Verschlussachenregistratur.
Warum die Netzpolitik-Affäre schlimmer ist als die Spiegel-Affäre
Zunächst bittet der Autor die noch lebenden damals im Rahmen der Spiegel-Affäre verfolgten Personen um Nachsicht. Der Vergleich soll Ihre damaligen Leiden und die Verfolgung in keiner Weise schmälern. Der Autor hofft, dass Sie den Sinn des Vergleichs in seinen Grundzügen anerkennen können.
Die Spiegel-Affäre
Der Einmarsch von Polizei und Staatsanwaltschaft war eine klare visuelle Darstellung von ungezügelter Macht gegenüber einer in der Nachkriegszeit gegründeten Zeitschrift. Es gab nicht nur eine politische Opposition, die Macht besaß, es gab Millionen von Deutschen, die Machtmißbrauch und seine Folgen persönlich kannten, Deutsche, für die Propaganda etwas Erlebtes war. Die menschenverachtende, sich hinter Paragraphen versteckende Zerstörung von Leben gehörte im Unterschied zu heute zum Erfahrungsschatz der damaligen Bürger.
Die vielen mehr oder minder reformierten ex-Nazis und Mitläufer waren eine Gefahr, wie die Spiegel-Affäre klar zeigte, die Gegenkräfte waren jedoch stark und organisiert.
Die Netzpolitik-Affäre und die Spiegel-Affäre
Es gehört wahrlich kein Mut dazu mehr, die Affäre jetzt als Angriff auf die Pressefreiheit zu bezeichnen, schließlich hat dies auch der ehemalige Justizminister Baum getan.
Die Bedrohungslage
Bei der Spiegel-Affäre war die postulierte Bedrohungslage sehr einfach, ein monolithischer ausländischer Gegner: Militär und Nachrichtendienste des Warschauer Pakts, inklusive der DDR als Ausland.
In der Netzpolitik-Affäre musste der Verfassungsschutz quasi zwei Gegner verwenden, weil nur so Landesverrat denkbar war. Der "Gegner zwecks Landesverrats" wird also von gegnerischen Nachrichtendiensten gespielt.
Der Gegner, gegen den sich die in den Dokumenten beschriebenen Zwangsmaßnahmen richten, wird von Extremisten und Terroristen gespielt - nicht von den gegnerischen Diensten, da der Umfang der konspirativen Verwendung von Facebook und Twitter durch den FSB wohl keine Massenüberwachung rechtfertigen kann. Darüber hinaus ist auch jeder Bürger ein potentieller Gegner, aber das sei hier einmal Nebensache.
Ministerielle Verantwortung
Die Spiegel-Affäre nahm ihren Ausgang im Verteidigungsministerium von Franz-Josef Strauß. Das Militär wurde damals weitaus kritischer hinterfragt als das Bundesinnenministerium heute. Minister Strauß leugnete damals zunächst Kenntnis vom Vorgehen gegen den Spiegel gehabt zu haben, exakt so wie heute Innenminister de Maizière. Letzterer ließ bis vor wenigen Tagen verlauten, sein Ministerium habe nichts vom Vorgehen des ihm direkt unterstellen Bundesamts für Verfassungsschutz gewusst.
Der Bundesanwalt
Der für Landesverrat zuständige Generalbundesanwalt ließ damals ein Gutachten vom Verteidigungssministerium erstellen. Man darf davon Ausgehen, dass die Vorgehensweise im Fall Netzpolitik sich bewußt an das damalige Verfahren anlehnte. Der Verfassungsschutz zog jedoch keinen noch so nominell unabhängigen Gutachter hinzu, sondern ließ seine eigene Rechtsabteilung tätig werden.
Dass die Presse jene verwaltungstechnisch als simple Stellungnahme oder, wenn man wohlmeinend sein möchte Anzeigebegründung, durchgehend als Gutachen bezeichnete, zeugt von einem bedenklichen Verständnismangel.
Das sogenannte zweite Gutachten, in Auftrag gegeben von Generalbundesanwalt Range, wurde von diesem ausdrücklich mit Verweis auf die Spiegel-Affäre angefordert.
Die Gefahr des "zweiten" Gutachtens
Noch einmal: es gibt keine zwei Gutachten sondern eine behördeninterne Stellungnahme und einen Gutachtenentwurf.
Damit kommen wir zum Problem der Gutachterauswahl. Der Autor kennt den Gutachternamen nicht, geht jedoch davon aus, dass es sich hier um einen Staatswissenschaftler, vielleicht mit Spezialisierung im "Sicherheitsrecht", handelt. Sofern es in Deutschland "geeignete" Gutachter gibt, die die Vorwürfe verwerfen würden, muß man davon ausgehen, dass ein Bundesanwalt als Angehöriger der Strafverfolgung um diese Gutachter einen Bogen macht bzw. solche Gutachter als unqualifiziert einstuft.
Nach Presseberichten ging der berufene Gutachter in Urlaub, jedoch nicht ohne die Klassifizierung als Staatsgeheimnis grundsätzlich zu bejahen.
Damit machte Herr Range letztlich die Netzpolitik-Affäre schlimmer als die Spiegel-Affäre, in der es nur ein "Gutachten" gab.
Für den Autor stellt sich die Frage: wenn es hier um eine Gefahr für Deutschland geht, warum geht der Gutachter in Urlaub?
Schließlich darf ein Mitarbeiter in der Kantine des Verfassungschutzes erst nach Hause gehen, wenn die Küche gesäubert und desinfiziert ist, obwohl kaum eine Gefahr für die Bundesrepublik besteht.
Wer sollte ein Gutachten erstellen?
Ideal wäre natürlich ein Fachmann aus einem gegnerischen Nachrichtendienst. Dazu benötigt man einen Gegner. Das Königreich Tonga, etwa, wäre vielleicht dazu bereit, besser wäre jedoch ein Anruf bei der Residentura des FSB/SVR/GRU. Die Nummer hat der Verfassungsschutz hoffentlich.
Das wäre eine vetrauensbildende Maßnahme, würde aber mit Sicherheit dazu führen, dass die gegnerischen Kollegen sagen: "uninteressant" oder "wissen wir schon lange". **
Sollte man den Autor fragen, wäre der Tenor der Antwort übrigens derselbe.
Das Bundesamt für Verfassungsschutz
Das Bundesamt mißbraucht nach Ansicht des Autors seine Macht in mehrfacher Hinsicht. Das Ziel der Anzeige ist eine im Vergleich kleine, finanziell schlecht ausgestattete Publikation. Die Klagen aus der Regierung über die Veröffentllichung "geheimer" Informationen müssten sich gegen eine Vielzahl von Presseverlagen und auch gegen den öffentlich-rechtlichen Rundfunk richten.
Da dies nicht geschieht, ist offenkundig, dass es sich um eine selektive Verfolgung einer nicht genehmen Publikation handelt, ein klarer Hinweis auf Machtmißbrauch, wie er sonst nur in autoritären Staaten vorkommt.
Da sich die Strafverfolgung von Journalisten bei Veröffentlichung von Verschlussachen nur über den Landesverrat erreichen lässt, stellt das Bundesamt die beiden fraglichen Veröffentlichungen als Staatsgeheimnisse dar.
Zwischenzeitlich wurden, zuerst in der Süddeutschen Zeitung (SZ), die Kernargumente der Stellungnahme des BfV veröffentlicht. Die SZ gab an, das Dokument sei sehr hoch als Verschlussache eingestuft, was auf mindestens Geheim, eher noch Streng Geheim schließen lässt. [Update 7.8.: Das Gutachten ist nur als VS-Vertraulich eingestuft. Liebe SZ, da haben Sie mich schön alt aussehen lassen.]
Damit wäre nun eine Anzeige des Verfassungsschutzes gegen die SZ ebenfalls geboten.
Findet diese nicht statt, ist dies klar als weiterer Hinweis auf eine selektive Verfolgung der Netzpolitik-Journalisten zu sehen.
Vorwurf der Einmischung an den Justizminister
Es ist davon auszugehen, dass das Justizministerium keinen Landesverrat sah und den Bundesanwalt zur gleichen Einsicht gelangen lassen wollte. Dummerweise hat das sogenannte zweite Gutachten wohl eine Anklage wahrscheinlich gemacht, weil der Bundesanwalt - tut mir leid - sich als inkompetent erwies.
Damit eskalierte die Lage zu ungunsten des Justizministers bis zur Prüfung der Strafvereitelung im Amt.
Hier erweist sich die Forderung, dem Verfahren seinen Lauf zu lassen als problematisch, denn sie verkennt, dass es sich eben nicht um ein normales Verfahren handelt. Es geht nicht etwa darum, dass ein Wutbürger eine Anzeige gegen ein Mitglied des Chaos Computer Clubs wegen vermeintlicher Falschaussage vor dem NSA-Untersuchungsausschuß stellt und man dem Verfahren seinen Lauf läßt.
Es geht bei der Anzeige wegen Landesverrats darum, dass die Exekutive einen anderen Teil der Exekutive zu Ermittlungen anleitet, was in jedem System aufgrund der inhärenten Machtverhältnisse ein anderes Gewicht besitzt als die Spontananzeige eines Wutbürgers gegen einen Mitbürger.
Es geht weiter darum, dass die für die Journalisten unschädliche Anzeige wegen Geheimnisverrats unter großem Aufwand ausgehebelt wurde.
Vorwürfe in der Stellungnahme des Verfassungsschutzes
Laut SZ ist der Tenor der behördeninternen Stellungnahme, dass ein gegnerischer Nachrichtendienst aus den beiden Netzpolitikdokumenten organisatorische und technische Einzelheiten erfahren kann und dadurch ein Nachteil für die Bundesrepublik entsteht. Außerdem wird behauptet, es handele sich erst um kürzlich gewonnene neue Kenntnisse, die zudem hochkonspirativ seien.
Hierzu erlaubt sich der Autor nun aufgrund sechsjähriger Arbeit mit Verschlussachen folgende Stellungnahme.
Zunächst sagt das BfV auf seiner Webseite, dass die Organisation des BfV nicht geheim ist.
Die Stellenverteilung nach Laufbahn ist ebenfalls kein Landesverrat, da sie den normalen Verhältnissen in einer zivilen obersten Bundesbehörde weitgehend entspricht, d.h. ein wenig mehr Häuptlinge (hD) als Indianer (mD).
Zu den technischen Erläuterungen ist anzumerken, dass diese nicht detailliert sind und jedem "gegnerischen Dienst" mit absoluter Sicherheit längst bekannte Sachverhalte sind.
Gleiches gilt für "konspirativ". Die Verwendung des NSA-Pakets XKEYSCORE, nicht von Netzpolitik.org aufgedeckt, ist von erheblich anderem Kaliber als die in den Netzpolitikdokumenten angedeuteten Mittel.
Nach Ansicht des Autors hätten beide Dokumente keine VS-Einstufung verdient.
Die Bedeutung des Begriffs gegnerischer Nachrichtendienst
Die Stellungnahme des BfV, vermutlich auch das Gutachten, benutzen den Begriff gegnerischer Nachrichtendienst, um einen angeblichen Nachteil für die Bundesrepublik zu postulieren.
Es stellt sich also die Frage: wer ist der Gegner und was sind seine Fähigkeiten.
Um den Vorwurf des Landesverrats zu halten, muß der Gutachter zwei sich widersprechende Aspekte zu einer Gefahr für die Republik verbinden.
1. Der nachrichtendienstliche Gegner muß eine ernstzunehmende Gefährdung für die Bundesrepublik darstellen
2. Der Gegner darf nicht so gut sein, dass er die Sachverhalte in den Dokumenten bereits selbst erarbeitet oder beschafft hat.
Punkt 1 ist eine gesellschaftliche bzw. politische Frage, Punkt 2 eine sicherheitsdienstliche Frage, die aufgrund der Zugangsbeschänkungen zu Informationen regelmäßig machtpolitisch ausgebeutet wird.
Dies führt dazu, dass gegnerische Dienste gemäß BfV-Stellungnahme gleichzeitig gefährlich aber nicht sonderlich kompentent sein dürfen.
Wie gut sind unsere Gegner?
Dazu erzählt der Autor am Ende aus dem Nähkörbchen, möchte jedoch zunächst noch über Verschlussachen sprechen.
Sinn und Unsinn von Verschlussachen, unangekündige Einstufungsprüfung
Es gibt sinnvolle und sinnlose VS-Einstufung, meist sinnlos. Aufschrei?
VS-Nur für den Dienstgebrauch (VS-NfD) und das nächsthöhere VS-Vertraulich sind zu 100% überflüssig.
Ein simples Beispiel ist eine bestimmte Bundeswehr-Dienstvorschrift, die selbstverständlich as VS-NfD eingestuft ist, von der es jedoch eine Übersetzung in Form eines veröffentlichten U.S. field manuals gibt - nicht als amerikanische Verschlussache eingestuft.
Bei der VS-Stufe Geheim gibt es Unterschiede, manche Dokumente sind zu Recht so eingestuft, viele nicht. Gleiches gilt für Streng Geheim, wobei echte Staatsgeheimnisse unter Streng Geheim fallen oder schlicht falsch eingestuft sind.
Es gibt neben lebenswichtigen Fernmelde- oder Nukleardokumenten unter der großen Gruppe Streng Geheim auch Banales, das man mit wenig Aufmerksamkeit in der Zeitung lesen konnte bevor Deckblatt und Stempel zuschlugen.
Der Ersteller bzw. die Dienststelle weisen den Geheimhaltungsgrad zu, was bei nichttechnischen und nichttaktischen Dokumenten oft genug eine Einladung zu Wichtigtuerei bzw. wie in der Netzpolitik-Affäre Machtmißbrauch ist.
Unangekündigte Einstufungsüberprüfungen sollen theoretisch Fehleinstufungen oder ein Ausufern von VS verhindern. Der Autor hat in sechs Jahren keine einzige Überprüfung miterlebt. Ob alle "unangekündigten Prüfungen" tatsächlich unangekündigt sind, bezweifelt der Autor, lässt sich jedoch gerne vom Gegenteil überzeugen.
Sicherheitsanweisungen in der BRD vor 25 Jahren und früher
1. Sie müssen davon ausgehen, dass kein Telefon sicher ist.
2. Themen, die VS-Vertraulich oder höher sind, dürfen nicht über ungesicherte Telefonverbindungen besprochen oder auch nur erwähnt werden.
3. Alleinstehende (nicht an ein Netzwerk angeschlossene) Computer können aus einer Entfernung von bis zu [vertraulich] Metern alleine über die Geräteemissionen abgehört werden.
Es wäre verwunderlich, wenn das BfV in den Punkten 2 und 3 auch nur annähernd sicher ist, da Laptops und Smartphones genutzt werden.
Wie gut sind unsere Gegner?
Es gibt genügend Presseberichte über den nachrichtendienstlichen Gegner, sagen Sie?
Stimmt, aber wie gründlich und wie tief jener Gegner schon vor der deutschen Wiedervereinigung arbeitete, ist der Öffentlichkeit nicht unbedingt klar. Der Autor möchte mit den folgenden Erlebnissen auch unterhalten, aber in erster Linie zum Nachdenken über die Sinnlosigkeit der Behauptung des BfV gegnerische Dienste können etwas aus Netzpolitikdokumenten erfahren anregen.
Der Major
Ein Bundeswehrmajor in zivil auf dem Weg nach Westberlin im Privat-PKW kommt an der DDR-Grenzkontrolle an, gibt dem DDR-Grenzer seinen Ausweis und bekommt ihn nach kurzer Zeit zurück. Der Grenzer verabschiedet den "Zivilisten" mit den Worten Gute Fahrt, Herr Oberstleutnant.
Nach der Rückkehr in seine Bundeswehrkaserne teilt der Vorgesetzte dem Major mit, dass er zum Oberstleutnant befördert wird.
Die Sicherheitsüberprüfung
Der Autor unterzieht sich der Sicherheitsüberprüfung für VS-Streng Geheim und gibt auf dem Fragebogen Referenzpersonen an, die persönlich von Schlapphüten befragt werden können.
Einige Zeit später besucht der Autor die Referenzperson A.
A. lacht und sprudelt los: Du kannst dir nicht vorstellen, was passiert ist als ich gestern abend mit B. telefiniert habe!
Was?
Ein Mann mit sächischem Akzent schaltet sich in unser Gespräch mit den Worten Euer Bundeskanzler ist ein Arschloch ein.
Und?
Er war vom MfS, wir haben uns eine Weile gut zu dritt unterhalten bis er sich wieder ausgeklinkt hat.
Der Wein
Der Hausmeister kehrt nach einem Familienurlaub aus der DDR zurück und erzählt lachend, dass ihm ein Unbekannter eine Flasche Wein angeboten hatte mit den Worten: das ist ja Ihr Lieblingswein.
Besteht das Bundesamt für Verfassungsschutz immer noch darauf, dass die Netzpolitikdoumente Neuigkeiten für gegnerische Nachrichtendienste enthalten?
Wie gut sind unsere Freunde?
Der Autor erhielt einen Brief mit einer Einladung zu einem Klassentreffen. Beim Klassentreffen erzählt ein Schulkamerad, der für eine deutsche Sicherheitsbehörde arbeitet, dass er den Autor und weitere Personen über die Dienstdatenbanken gesucht hatte, um die Adressen ausfindig zu machen.
Nachwort
Der Autor beabsichtigt nicht, mit diesem Post die Meinungen jener zu ändern, die Verschlussachen für absolut notwendig oder den Straftatbestand "Staatsgeheimnis" für sinnvoll halten. Dazu liegen wir viel zu weit auseinander.
Wie heißt es doch so schön: Man kann einmal Gesehenes nicht ungesehen machen.
[Update] Paragraph zu Sicherheitsanweisungen hinzugefügt.
[Update 8/8] Nachwort hinzugefügt. Rechtschreibung verbessert.
[Update 8/9] Fußnoten entfernt, da streng genommen zur Zeit nicht nötig. Stil und Rechtschreibung because my German sucks.
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